Im Labyrinth der weißen Gänge - Teil 1

Im Klinikum St. Marah herrscht immer viel Betrieb. So begleiten wir Chefarzt Dr. Strangelove bei seinem normalen Alltag im Arbeitsleben. Doch wie normal ist dieser tatsächlich? Denn plötzlich geschieht etwas Unvorhergesehenes und der Doc findet sich in einer schwierigen Situation wieder. Kann er dem, was ihn erwartet, entkommen?


Die Sonne war gerade erst richtig aufgegangen an diesem Montagmorgen. Trotz der frühen Stunden herrschte im Klinikum St. Marah bereits geschäftiges Treiben. Die müde wirkenden Pflegekräfte huschten über die Gänge, gingen in Patient:innenzimmern ein und aus. Menschen wurden aus ihren Betten gescheucht, Frühstück und Medikamente gleichermaßen verteilt. Hier und da wischte eine Putzkraft lustlos über den Fußboden während orientierungslos herumirrenden Patient:innen in OP-Kitteln ausgewichen wurde. Das bei all dem entstehende Stimmengewirr war so laut, dass man das ständig klingelnde Telefon am Empfang schon gar nicht mehr richtig wahrnahm.

In der sich ununterbrochen öffnenden Eingangstür, wo sich die Menschen dicht aneinander vorbeidrängten und gegeneinander liefen, erschien eine Gestalt, die den Mitarbeiter:innen bestens bekannt war: Krankenhausleiter Dr. Strangelove – von allen nur „Doc“ genannt – schlurfte mit hängenden Schultern herein und balancierte einen Kaffeebecher in jeder Pfote geschickt an dem Personenstrom vorbei, so dass kein einziger Tropfen verschüttet wurde. Das war ihm offenbar nur mäßig gelungen, da sein zerknitterter weißer Kittel schon einige Flecken aufwies. Diese konnten allerdings auch noch von gestern sein. Oder letzter Woche. Wer wusste das schon?

Aber wieso eigentlich Pfoten? Nun der Doc war ein Capybara. Jep, dieses niedliche, große Meerschwein, das man immer entspannt in irgendwelchen heißen Quellen oder Teichen sieht. Nun dieses hier war anders. Es war groß, trug einen Arztkittel, ging auf den Hinterbeinen und benötigte eine Brille. Und es war eventuell etwas koffeinsüchtig. Mit seinen Wald und Wiesen Artgenossen hatte er nicht viel gemeinsam, außer dem durch und durch übermüdeten Blick. Der vom Doc wurde allerdings mitnichten von absoluter Entspannung hervorgerufen, eher im Gegenteil. Die Jahre im Krankenhaus hatten seinen Schlafrhythmus komplett zerstört und alles, was den Motor nun noch am Laufen hielt, war der bittere Bohnensaft und eine zünftige Portion Zynismus. Warum er die heißen Quellen gegen den Klinikalltag getauscht hat? Das wusste er selbst nicht so genau. Schicksal vielleicht. Oder Wahnsinn.

Er nahm einen großen Schluck aus einem seiner Kaffeebecher, während er sich einen Weg zur Anmeldung bahnte. Dort saß, versteckt hinter einem großen Bildschirm, ein kleiner Sheltie, welcher eifrig auf der Tastatur Patient:innen-Daten eintippte. Sein dreifarbiges Fell sah etwas zerzaust aus, so als wäre er eben erst aufgestanden und der kleine Wikingerhelm saß auch etwas schief zwischen seinen spitzen Ohren. Der Schreibtisch war übersät mit Dokumenten, Zeichnungen, Bastelprojekten und Notizen, die mittlerweile auch das nach wie vor dauerklingelnde Telefon vollständig bedeckten. Als der kleine Hund den Doc bemerkte schaute er von seinem Bildschirm auf.

„Guten Morgen Chef, hier ist schon wieder die Hölle los! Wir haben 15 Neuanmeldungen und alle aus den unterschiedlichsten Gründen. Im OP-Saal 2 ist schon wieder Stromausfall. Herr Belli hat beim Reinigen wieder was gesprengt und eine Wand eingerissen. Schwester Sabi ist umgekippt, weil der Patient aus Zimmer 207 plötzlich Nasenbluten bekam. Wir haben einen Haufen Mahnungen bekommen aber ich kann Herrn Bergy aus der Buchhaltung nicht erreichen und HMPF...“
Dr. Strangelove patschte dem aufgeregten Sheltie eine Pfote ins Gesicht und unterbrach seinen Redefluss.
„Itze hör zu. Mein erster Kaffee ist bereits leer und ich bin sehr, sehr müde. Herr Bergy hat vermutlich wieder Home Office. Oder Urlaub. Den sehen wir wahrscheinlich erst in ein paar Wochen wieder. Um die Wand und OP 2 soll sich der Hausmeister kümmern. Und Schwester Fuchs bitte um Schwester Sabi.“
Er leerte den zweiten Kaffeebecher.
„Ich gehe mir jetzt erstmal einen neuen Kaffee holen. Dann sehen wir weiter.“
„Aber ...“, protestiere Itze hinter der Anmeldung, noch immer mit der Pfote im Gesicht.
„ERST Kaffee.“
Und mit diesen Worten schlurfte das Capybara weiter Richtung Kantine und ließ den völlig verdutzten Itze an seinem Schreibtisch zurück, welcher ihm hilflos hinterher schaute.

Auf seinem Weg stopfte der Doc den leeren Kaffeebecher in einen Mülleimer. Den zweiten Becher hatte er wohl am Empfang vergessen. Na ja, der war sowieso leer. Missmutig schleppte er sich durch die trostlosen Gänge. Hier und da hingen auch Bilder an den nicht mehr ganz so weißen Wänden. Diese sahen jedoch aus, als hätte sie eine sehr schlechte KI entworfen und je länger man hinsah, desto schlimmer wurde jedes einzelne davon. Den meisten Personen darauf fehlten entweder ein paar Finger oder Gliedmaßen –oder sie hatten mehr als sie haben sollten. Man durfte einfach wirklich nicht so genau hinschauen. Was gerade für Patient:innen schwierig war, welche sich oftmals lange in den Gängen und Wartezimmern aufhalten mussten. Einige behaupteten hinterher steif und fest, dass dieses Krankenhaus sie verrückt gemacht hätte. Und der Doc widersprach ihnen nicht, ließ aber offen, ob dies wirklich nur an den Bildern lag.

Als er die Buchhaltung passierte, warf er einen Blick auf die Tür. Dort hing ein großer Zettel: „Bin für 3 Wochen im Urlaub. Danach habe ich Home Office! – Herr Bergy, Controller“
Der Doc nickte nur und setzte seinen Weg fort.

Als er auf die nächstgelegene große Doppeltür zuging, strömte ihm bereits der Duft von frischem Kaffee entgegen. Ein klein wenig besser gelaunt, schwang er die Tür auf und betrat die Krankenhauskantine.
Der Speisesaal war groß und hell. Die Sonne schien durch die hohen Fenster, welche einen Blick auf den riesigen Klinik-Garten boten, der zu dieser Zeit seine frühsommerlichen Farben präsentierte. Zwischen kleinen Einzeltischen zogen sich auch lange Tischreihen durch den Raum, um möglichst vielen Menschen Platz zu bieten. Denn sowohl Mitarbeitende als auch Patient:innen und deren Angehörige durften das kulinarische Angebot hier nutzen. Im hinteren Bereich befand sich die Essensausgabe. Eine große Tafel darüber zeigte das tagesaktuelle Menü an, welches für heute „Curry“ auswies. Hinter der Theke stand eine große grüne Drachin. Die enormen Flügel fein säuberlich auf dem Rücken angelegt, um beim Umhergehen nicht versehentlich die komplette Einrichtung abzuräumen. Mit strengem Blick überwachte sie die Menschen im Speisesaal, während sie dabei bedrohlich einen großen Holzlöffel schwang.

Sie nickte dem Doc im Vorbeigehen zu und er näherte sich dem riesigen Kaffeeautomaten neben der Ausgabe. Automatisch tippte er mit seinen Pfoten die Taste für den größten Kaffee im Angebot. Er konnte diesen Apparat auch im Schlaf bedienen, was sicher auch schon mehr als einmal vorgekommen war. Ungeduldig mit dem Fuß wippend wartete er, bis sich der riesige Becher bis fast zum Rand mit dem köstlichen Getränk gefüllt hatte, während ihm der betörende Geruch in die Nase stieg. Endlich nahm er den dampfenden Becher entgegen und sog den Duft der gemahlenen Bohnen ein. Gerade als er sich umdrehen wollte, stieß jemand mit ihm zusammen. Durch die Wucht des Aufpralls verteilte sich der kochend heiße Inhalt des Bechers in Gänze auf Docs Kittel und färbte ihn braun. Statt zu fluchen oder hektisch herumzuwedeln, um das Brennen loszuwerden, schloss er einfach kurz die Augen und seufzte. Als er sie wieder öffnete, schob sich schon eine Serviette in sein Blickfeld.
„Huch! ‘tschuldigung Doc! Hab Sie gar nicht gesehen!“
Energisch schob sich das Capybara die fremde Hand mit dem Papierfetzen aus dem Gesicht.
„Herr Bergy! Ich dachte Sie haben Urlaub?“
Vor ihm stand der riesige, stets gut gelaunte und charmante Controller. Alle im Krankenhaus mochten ihn, auch wenn man ihn vor Ort selten zu Gesicht bekam.
„Äh... ja... ich bin eigentlich auch gar nicht hier. Aber Jürgen aus der Buchhaltung hat Geburtstag und es gibt Sekt. Außerdem hat Lurchi heute Bananenbrot gebacken und das konnte ich mir ja nicht entgehen lassen.“
„Was: den Sekt, Lurchi oder das Bananenbrot?“, fragte Doc genervt und betupfte seinen Kittel um zu retten was zu retten war.
„Hm?“ der fahrige Hüne schien ihm schon nicht mehr zuzuhören und winkte stattdessen zwinkernd der Drachin zu, welche ein seltenes Lächeln zeigte und ebenfalls die Klaue zum Gruß hob. Er drückte dem Doc noch eine weitere Serviette in die Hand, drehte sich um und lief zur Essensausgabe.
„Na das geht ja hier schon wieder gut los.“, murmelte Strangelove und versuchte noch etwas Kaffee von seinem Kittel zu tupfen, gab schließlich aber resigniert auf. Er würde sich wohl aus der Wäscherei einen neuen holen müssen. Wurde eh mal wieder Zeit. Die sich bessernde Laune bereits im Keim wieder erstickt, drehte er sich um und verließ die Kantine wieder. Im Vorbeigehen schlug Lurchi so geschickt auf einen kleinen Tisch neben sich, dass dieser nach oben klappte und ein eingepacktes Stück Bananenbrot im hohen Bogen über die Theke flog und direkt in des Capybaras Kitteltasche versenkt wurde. Dieses pfiff anerkennend und schaute die Drachin bewundern an.
„Meine neuste Erfindung: das Tischkatapult! Gefällt es Ihnen?“, fragte sie mit unverhohlenem Stolz in ihrem Blick ob dieses wirklich perfekten Treffers.
„Prima Sache, Lurchi!“, nickte der Doc, „Vielleicht kann ich das Bananenbrot im Gehen in den Kaffee auf meinem Kittel tunken.“
So verließ er, Lurchi winkend, den Speisesaal wieder. Missmutig und ohne Kaffee.


Leise vor sich hin meckernd, streifte der Doc durch die langen Krankenhausflure auf dem Weg in die Büro-Räume. Auch hier hingen diese unsagbar schrecklichen Gemälde. Schaute denn wirklich niemand darauf wie die Hände aussahen bei diesen Bildern? Er nahm sich fest vor noch einmal gründlich nachzuforschen, wer dafür verantwortlich war und warum das an ihm vorbei entschieden wurde.
Tief in Gedanken versunken, achtete er nicht darauf, wohin ihn seine Capybara-Pfoten trugen. So stand er plötzlich in einem Gang, in dem er noch nie zuvor war. Eigentlich wollte er ja auch in die Wäscherei. Aber da war er hier scheinbar völlig falsch. Untypischerweise hingen auch keine Wegweiser an den Wänden, die ihm hätten vermitteln können, wohin er als nächstes gehen sollte. Unschlüssig blieb der Doc stehen und legte den Kopf schief. Da ertönte über die knackende Lautsprecher-Anlage ein Jingle: „Bitte die Krankenhaus Öffnungszeiten beachten. Wir schließen nun ab!“
Mit einem lauten Poltern schlossen sich die Durchgangstüren und vor die Fenster schoben sich langsam die elektrischen Rollläden. Noch während der Doc versuchte zu realisieren, was hier gerade geschah, ging auch noch das Licht aus. Für einige Sekunden war es stockdunkel um ihn herum, bis sich die Notbeleuchtung einschaltete. Das leise Flimmern der Leuchtstoffröhren hallte durch die Gänge, in denen nun ansonsten Totenstille herrschte. Niemand war zu sehen oder zu hören, weder Personal noch Patient:innen. Der Doc ging vorsichtig zur nächstbesten Tür und klopfte. Nichts. Er klopfte noch einmal lauter. Immer noch nichts. Er betätigte die Türklinke – abgeschlossen.
„Vorwärts immer!“, sagte er zu sich selbst und schritt selbstbewusst auf die geschlossene Durchgangstür zu und drückte diese auf, immerhin waren diese nicht verschlossen. Er lief den Gang dahinter entlang und stieß an dessen Ende auf eine Weggabelung. Er schaute beide Gänge entlang, so weit es das spärliche Licht zuließ. Nach wie vor keine Beschilderung an den sonst weißen Wänden, die nun im Licht der Notausgangsbeleuchtung grünlich schimmerten. Dann den Notausgangsschildern hinterher. Da wird es ja dann schon irgendwann rausgehen, dachte er sich. Er bog nach links ab und öffnete auf seinem Weg noch zwei weitere Durchgangstüren. Nach wie vor begegnete ihm keine Menschenseele auf den Gängen. Und auch die Stille wurde nur durch das Tappen seiner Pfoten auf dem Linoleum-Fußboden unterbrochen. Eine gefühlte Ewigkeit irrte er durch Gänge, nahm Abzweigungen und öffnete Türen. Doch nichts schien auch nur in die Nähe eines bekannten Punktes, geschweige denn eines Ausgangs zu führen. Durch die Dunkelheit und die Tatsache, dass es keinerlei menschliche Begegnungen gab, verlor der Doc auch jegliches Zeitgefühl. Wie viel Zeit war wohl schon vergangen? Minuten? Stunden? Die einsetzende Müdigkeit aufgrund des Koffein-Mangels verschlimmerte die ganze Situation zusätzlich und seine Laune verschlechterte sich mit jedem Schritt seiner bereits schmerzenden Pfoten. An der nächsten Ecke blieb er stehen. Entweder er lief im Kreis oder es sah einfach alles exakt gleich aus. Prüfend schaute er sich um. Dankbar sah er im schummrigen Licht einen Klinik-Rollstuhl, ließ sich hineinfallen und streckte seine Beine aus. Er konnte unmöglich einfach weiter herumirren und hoffen, doch mal irgendwann irgendwo herauszukommen. Aber was sollte er tun? Die Fenster einschlagen? Unmöglich. Dafür fehlte ihm die Kraft und am Ende stellte sich dann doch heraus, dass er direkt neben dem Ausgang war und alle würden ihn für verrückt halten. Der Versicherung wollte er das auch nicht unbedingt erklären wollen.

Als er so darüber nachdachte, was er als Nächstes tun sollte, vernahm er ein leises Geräusch. Ein Art Summen, aber irgendwie dumpf. Er schaute sich um, konnte aber auch nicht ausmachen, woher es kam. Unvermittelt brach das Geräusch ab und der Doc dachte schon, er hätte es sich nur eingebildet, nur um dann erneut an sein Ohr zu dringen.
Plötzlich krachte etwas mit ohrenbetäubendem Lärm durch die Deckenplatten. Gerade noch rechtzeitig warf sich der Doc zur Seite, als etwas Schweres auf den Boden krachte und den Rollstuhl davon fegte. Schutt, Staub und Plattenbruchstücke rieselten zu Boden und erzeugten eine undurchdringliche Nebelwand. Das feine Material reizte Nase und Rachen des Docs und er verfiel in einen Hustenanfall. Als sich der Staub langsam legte, erhob sich aus dem Berg an Baumaterial eine Gestalt, ebenfalls hustend. Strangelove wischte seine Brille am Kittel ab und setzte sie hastig wieder auf, um sehen zu können, wer diesen Aufruhr verursacht hatte. Er musste die Augen ein wenig zusammenkneifen, aber dann erkannte er ihn: es war der Otter!
„Huiuiui“, rief dieser verwundert und klopfte sich mit seinen kleinen Pfoten-Händen den Staub von der Latzhose, welche dadurch ihre Farbe wieder von grau zu blau wechselte.
„Was um alles in der Welt haben Sie da oben gemacht!?“, fragte der Doc und schaute den Hausmeister, welcher immer noch zur Decke blickte, entgeistert an.

Weiter zu Teil 2 dieser Folge

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„TheFellows“ ist ein kleines Nebenprojekt, ins Leben gerufen, um die großartige Community auf dem Discord-Server „Fellowship of Marah“ zu feiern. In diesen kreativen Gefilden entstehen regelmäßig Schätze, die es wert sind, gesammelt zu werden. Marah ist Streamerin und sorgt seit 2015 bei Rocket Beans TV für gute Unterhaltung.